Zweites Pflegestärkungsgesetz löst Probleme des Pflegesystems nicht

Lesen Sie hier den Gesetzentwurf der Bundesregierung und den Entschließungsantrag der LINKEN:

– Gesetzentwurf der Bundesregierung: Drucksachen 18/5926, 18/6688

– Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II): Drucksache 18/6692

Bewertung des Gesetztes:

Das Gesetz ist überfällig. DIE LINKE übersieht die Fortschritte nicht. Doch gemessen am Pflegenotstand in Deutschland greift es zu kurz, lässt Vieles im Unklaren und Leistungsminderungen sind in unteren Pflegegraden vorprogrammiert. 300 Euro weniger gibt es im Pflegegrad 2 für einen Heimaufenthalt. Die Kommunen werden nicht gestärkt. Und vor allem: es gibt keine besseren Personalstandards und Qualitätskriterien. Diese entscheidenden Fragen werden erneut vertagt. Ein veränderter Gutachterblick auf pflegebedürftige Menschen verbessert nicht ihre Lebenssituation. Die Strukturen werden noch unübersichtlicher. Erleichterte Rentenansprüche für pflegende Angehörige sind gut. Doch über 32 Prozent davon sind RentnerInnen. Sie profitieren nicht davon. Frühere Arbeitslosenbeiträge bei Jobausstieg sichern etwas besser ab. Zu verbessern wäre stattdessen die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Eine Pflegereform, die so viel kostet, muss die Lebenssituation von allen Betroffenen verbessern. Schließlich handelt es sich um Versicherungsleistungen – um jahrelang gezahlte Beiträge.

Im Detail: Unsere Kritik an diesem Gesetzentwurf stützt sich auf drei grundlegende Aspekte:

1. Das Gesetz ist janusköpfig: Verbesserungen für viele Menschen gehen einher mit Verschlechterungen und neuen Ungleichbehandlungen
Unmittelbar führt das Gesetz zwar zu einer Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten bezüglich der Leistungen der Pflegeversicherung, aber das Begutachtungsverfahren verliert den Verrichtungsbezug und stellt gleichberechtigt somatische, kognitive und soziale Beeinträchtigungen und Ressourcen dar. Diese Fortschritte gehen auf Kosten von Menschen mit leichten somatischen Beeinträchtigungen bzw. von Menschen in den unteren Pflegegraden. Der im Auftrag der Bundesregierung erstellte „Bericht zur Evaluation der Versorgungsaufwände in stationären Einrichtungen“ zeigt, dass ein Viertel der Menschen, die nach derzeitiger Einstufungspraxis Pflegestufe 1 oder 2 bekämen, im zukünftigen Verfahren Leistungen unterhalb dieses Niveaus erhalten würden. Das bedeutet, dass die ab dem Jahr 2017 begutachteten Personen bei gleichem Pflegbedarf einen Pflegegrad erhalten, der vom Leistungsniveau her unter dem jetziger vergleichbarer Pflegestufen liegt. Wir sind der Auffassung, dass Menschen mit Pflegebedarf nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Unser Pflegeverständnis geht davon aus, dass sich die konkrete Lebenssituation aller Menschen mit Pflegebedarf dringend verbessern muss. Deshalb fordert DIE LINKE seit Jahren die Einführung eines Pflegebegriffs und nicht nur eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Der defizitorientierte Blick auf körperliche Einschränkungen wird mit dem angestrebten Begutachtungsverfahren durch einen Blick auf den Grad der verbliebenen Selbständigkeit abgelöst. Die enge, verrichtungsbezogene Sicht wird in der Begutachtung aufgehoben, aber nicht im praktischen Pflegealltag. Unserer Auffassung nach muss ein verändertes Verständnis von Pflegebedürftigkeit auch ein verändertes Verständnis der Pflegearbeit und des Pflegeprozesses in Richtung eines teilhabeorientierten Pflegebegriffs nach sich ziehen.

2. Keine Leistungsverbesserungen im Sinne einer fachlich qualifizierten, professionellen Pflege
Ganz im Gegenteil, die häusliche bzw. familiäre Pflege wird gestärkt, ohne Qualität und Fachlichkeit der ambulanten Pflege zu stärken (71 % der Pflegenden werden zu Hause gepflegt). Um die Fachlichkeit zu stärken, müsste ein Personalbemessungsinstrument oder zumindest Vorgaben für eine qualitätsbezogene Personalbemessung gemacht werden. Dies bleibt jedoch aus und wird auf die lange Bank geschoben. Die Erarbeitung eines solchen Verfahrens soll bis 2020 erfolgen. Wann ein solches Personalbemessungsinstrument tatsächlich umgesetzt werden soll, ist nicht verbindlich festgelegt. Bis dahin – das sind immerhin noch fünf Jahre – haben sich die jetzt schon schlechten Personalstandards weiter verfestigt, so dass von diesem sinkenden Niveau heraus dann wieder verbessert werden muss.
Warum wird sich die Personalsituation verschlechtern? Weil sich aus dem neuen Begutachtungsverfahren ein steigender Pflegeaufwand ergibt, dem mit dem Gesetz aber nicht Rechnung getragen wird. Pflege, die sich an der Selbständigkeit misst, braucht mehr Zeit! Und das bedeutet auch mehr fachlich qualifiziertes Personal. Dieses Gesetz setzt auf die Leidensfähigkeit des Pflegepersonals und das ist nicht in unserem Sinne.

3. Selbstbestimmung von Menschen mit Pflegebedarf
Viele Menschen mit Pflegebedarf bekommen zwar mehr Geld, aber das Wunsch- und Wahlrecht wird durch das Gesetz nicht verbessert und für Menschen in niedrigen Pflegegraden sogar verschlechtert. Es werden mit dem Pflegestärkungsgesetz zusätzliche Anreize für die häusliche und die familiäre Pflege geschaffen, indem es weniger Leistungen für die stationäre Pflege gibt:

– Aus der bisherigen Pflegestufe 0 wird Pflegegrad 1, der aber kaum nennenswerte Leistungen beinhaltet.
So wird ein Heimaufenthalt bei diesem Pflegegrad nur pauschal mit 125 Euro monatlich vergütet. Nach Schätzungen werden 27 % derjenigen, die nach heutigem Verfahren Pflegestufe 1 erhalten würden, insbesondere mit überwiegend somatischen Beeinträchtigungen, ab dem 01.12.2017 leer ausgehen.

– Im zukünftigen Pflegegrad 2 sinkt die Zuzahlung für Menschen in der vollstationären Pflege vom Niveau der heutigen Referenz mit Pflegestufe 1 von 1064 Euro auf 770 Euro im Monat, für Menschen im Pflegegrad 3 noch um 68 Euro.

Diese Kritik greift auch unser Entschließungsantrag auf. Um wirklich in eine richtige Richtung zu gehen, haben wir sechs Forderungen:
strategische, längerfristige Abschaffung des Teilleistungsprinzips der Pflegeversicherung und die solidarische Pflegeversicherung; kurzfristige Schritte, wie die Auflösung des mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz eingeführten Pflegevorsorgefonds; die Erhöhung der Sachleistungsbeträge um weitere 25 % oder die regelgebundene Leistungsdynamisierung, um dem Realwertverlust der Leistungen einen Riegel vorzuschieben.