In Berlin und (H)alle dabei – 100 Jahre Wahlrecht für Frauen

„Frauen sind erst dann erfolgreich, wenn niemand mehr überrascht ist, dass sie erfolgreich sind.“ (Emmeline Pankhurst¹).

Was wäre, wenn …

… die Gesellschaft so aussehen würde: Frauen machen die Politik, gehen Berufen nach und genießen alle Privilegien. Die Männer sind zu Hause und kümmern sich um die Kinder und den Haushalt. Sie dürfen ohne Erlaubnis der Ehefrauen kein eigenes Geld verdienen. Sie erhalten keinen Zugang zu Bildung. Wenn sie sich scheiden lassen, verlieren sie ihre Kinder und bekommen keinen Unterhalt. Gehen sie einer Arbeit nach, in Fabriken zum Beispiel, dann sind sie nicht versichert und erhalten einen vielfach geringeren Lohn als Frauen. Sie werden ständig auf ihr Geschlecht reduziert, gelten als weniger intelligent und schwächer als Frauen und neigen zur Hysterie. Sie müssen lediglich gut aussehen, sollen ansonsten aber die Klappe halten. Vergewaltigung in der Ehe? Normalzustand. Der Mann hat es zu dulden, wenn die Frau will. Vor dem Gesetz existieren sie, die Männer, nicht. Sie haben keine Rechte und dürfen nicht wählen.

Unvorstellbar? Eben. Aber der weiblichen Hälfte der Bevölkerung wurde genau das über Jahrtausende zugemutet, ohne das daran etwas geändert wurde. Wären Männer in so einem System gefangen, was hätten sie wohl getan? Genau. Sie hätten sich gewehrt – und zwar zurecht! Sie hätten sich zusammengeschlossen, Männerrechtsvereine gegründet, Initiativen aufgebaut, Proteste organisiert, Petitionen eingereicht, Lobbyarbeit betrieben und gestreikt. Alles nur, damit auch sie die Anerkennung und Rechte erhalten, die ihnen zustehen und damit nicht eine Hälfte der Bevölkerung über die andere bestimmt.

Genau das taten die Frauen vor mehr als 100 Jahren. Sie hatten die Schnauze voll davon, Menschen zweiter Klasse zu sein; ohne Rechte, ohne Anerkennung, ohne Gleichstellung. Sie rüttelten an den Strukturen der Gesellschaft und brachten ein Jahrtausende altes System ins Wanken.

Als in England die industrielle Revolution losbrach, brachte das Wohlstand und Elend zugleich. Das Bürgertum erhielt immer mehr Rechte und emanzipierte sich in der Politik – das männliche Bürgertum wohlgemerkt. Frauen blieben, ebenso wie Kriminelle und Geisteskranke, vom Wahlrecht und anderen politischen Rechten ausgeschlossen. In Deutschland sah das übrigens nicht anders aus. Frauen hatten kein Mitbestimmungsrecht und waren den Bestimmungen und Entscheidungen der männlichen Gesetzgeber ausgeliefert. Daher forderten sie Zugang zu Bildung und zu öffentlichen Ämtern. Sie forderten soziale Absicherungen für Arbeiterinnen und einen Mindestlohn. Sie forderten gleiche Rechte für Männer und Frauen.² Sie forderten das Wahlrecht, weil sie begriffen hatten, dass sie nur dann die Gesellschaft verändern können, wenn sie selbst an den Schalthebeln der Macht sitzen.

Die Frauen gründeten Frauenrechtsvereine und -gruppen und eigene Gewerkschaften. Sie übten parlamentarische Lobbyarbeit aus, reichten Petitionen ein, hielten öffentliche Versammlungen ab, schrieben an Abgeordnete und veröffentlichten eigene Artikel und Zeitschriften. Aber sie gingen auch auf die Straßen und demonstrierten für ihre Rechte. Und manche Frauenrechtsgruppen, so wie die englischen militanten Suffragetten, übten bewusste Regelüberschreitungen. Unter dem Motto Taten statt Worte zerschlugen sie Schaufenster, störten politische Veranstaltungen und zerstörten Eigentum.²

Im November 1918 erhielten die Frauen in Deutschland das Wahlrecht.² Zum Frauentag am 8. März 2018 wird dieses Jubiläum gefeiert. Andere europäische Länder müssen bis zum 100-jährigen Jubiläum noch etwas warten. Italienische Frauen dürfen erst seit 1946 wählen, Griechinnen erst seit 1952 und die Schweizerinnen erst seit 1971! Seit 2005 dürfen Frauen in Kuwait wählen gehen und Saudi-Arabien erlaubt ein eingeschränktes Wahlrecht erst seit 2015.

Die Daten zeigen, dass offenbar noch immer nicht die Gleichstellung der Frauen in allen Bereichen und auf der ganzen Welt erreicht ist. Vieles, wofür Frauen damals kämpften, muss heute noch immer erkämpft werden. Es gibt nach wie vor Länder wie Indien, Nigeria, Pakistan oder die Elfenbeinküste, in denen Mädchen keinen Zugang zu Bildung haben. Es sind auch die Länder, in denen Kriege und Armut herrschen. Wo keine Bildung ist, da gibt es keine Entwicklung, keine Arbeit, keinen Wohlstand – nicht nur für Frauen und Mädchen. Frauenrechte sind Menschenrechte.

Wir müssen gar nicht so weit schauen. Auch wenn die Frauen in Deutschland vor dem Gesetz gleichgestellt sind und mehr Rechte genießen als in den Armutsregionen dieser Welt, so gibt es auch hier immer noch Nachholbedarf. Im Gender Gap Report schaffte es Deutschland im Jahr 2017 auf Platz 12. Das ist nicht schlecht, aber besser geht es auf jeden Fall noch. Denn noch verdienen Frauen im Schnitt 21% weniger Lohn als Männer und sie sind auch noch nicht in allen öffentlichen Institutionen paritätisch vertreten. Im neu gewählten Deutschen Bundestag, zum Beispiel, sind lediglich 30,7% der Abgeordneten weiblich. So männlich war der Bundestag seit 19 Jahren nicht mehr. Das ist keine angemessene Repräsentanz der deutschen Bevölkerung. Und auch die Persönlichkeitsrechte der Frauen sind in manchen Bereichen nach wie vor eingeschränkt. Denn noch gibt es den §219a des StGB, der Ärztinnen und Ärzten über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Dabei verstößt das gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung – welches übrigens auch von der Frauenbewegung erkämpft worden ist. Initiativen wie das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung machen sich stark für die Streichung des Paragrafen.

Liebe Männer, die Frauen wollen euch nicht verdrängen. Sie wollen keine Gesellschaft, in der die eine Hälfte, die andere unterdrückt. Sie wollen eine gleichberechtigte Teilhabe aller Geschlechter. Ist es zu viel verlangt, wenn wir alle den gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit erhalten, wenn wir alle das gleiche Recht auf Teilzeit- und ein Rückkehrrecht auf Vollzeitbeschäftigung haben? Wäre es so schlimm, wenn wir uns einflussreiche Positionen in Ämtern, Mandaten und Aufsichtsräten paritätisch teilen würden? Wäre es nicht schön, wenn auch Väter mehr Zeit für ihre Kinder haben könnten, weil wir dieses veraltete Modell des Familienernährers über Bord werfen und stattdessen familienfreundlichere Arbeitszeiten, flexible Kita-Öffnungszeiten und ein Elterngeld für beide Elternteile einführen? Ist es so schwer zu verstehen, dass Frauen genauso vor Gewalt geschützt werden möchten, wie Männer? Nein? Dann lasst es uns zu einem gemeinsamen Ziel machen und für die Gleichstellung der Geschlechter einstehen. Wir haben alle etwas davon. Denn diese Ziele sind Ziele, die nicht nur den Frauen, sondern der gesamten Bevölkerung zugute kommen werden.

¹ Emmeline Pankhurst (1858-1928) war eine englische Frauenrechtlerin und Anführerin der militanten Suffragetten

² Karl, Michaela (2011): Die Geschichte der Frauenbewegung. Reclam Verlag Ditzingen

Grafik zum Frauenwahlrecht in Europa