Kernfusionsforschung kritisch prüfen (ITER)

TOP 21: Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kernfusionsforschung kritisch überprüfen – ITER-Vertrag kündigen, Drs. 17/1433

—–

– Rede zu Protokoll –

Sehr geehrte Damen und Herren,

Michail Gorbatschow kennt sich mit Fusionen aus! Er begleitete nicht nur die Fusion der beiden deutschen Staaten, sondern rief mit Francois Mitterand und Ronald Reagan auch das Kernfusionsprojekt ITER ins Leben. Das geschah bereits 1985 und der politische Glaube an solche Großtechnologien wie die Atomkraft schien in dieser Zeit ungebrochen.

In den nachfolgenden zwanzig Jahren erlebte das Projekt viele Planungsphasen und Kostenschätzungen. Die USA zogen sich 1998 als Hauptfinanzier zurück, weil ihnen die damals prognostizierten Baukosten von 13 Mrd. D-Mark, also knapp 7 Mrd. Euro, nach heutigen Maßstäben für einen Forschungsreaktor zu hoch erschienen. Zwischenzeitlich wurden die Gesamtbaukosten herunter gerechnet. Nach dem Preisstand von 1989 lag man bei 3,577 Mrd. US-Dollar. Das bedeutet preisbereinigt bezogen auf 2008 5,366 Mrd. Euro.

Nun, im Jahr 2010, ist man wieder bei Kostenplanungen in Höhe von 7,2 Mrd. Euro gelandet. Es ist also eine gewaltige Finanzierungslücke entstanden.

Niemand weiß, ob bei Fortsetzung des Projektes und seines Baus nicht weitere Anpassungen nach oben nötig werden. Zum einen infolge neuer Forschungserkenntnisse und zum anderem infolge neuer Reibungsverluste durch technische, bauliche aber auch bürokratische Inkompatibilitäten. Fakt ist: ITER bleibt für alle beteiligte Seiten mit unabsehbaren finanziellen Risiken behaftet.

Es gibt aber eine weitere Entwicklung, die ITER grundsätzlich in Frage stellt. Und das ist der Klimawandel. 1985 war er noch kein öffentliches Thema. Heute aber haben uns sein Umfang und seine dramatischen Folgen eingeholt. Wir waren und sind gezwungen umzudenken und anders zu handeln.

Effektivität und Effizienz sind zu den entscheidenden Kriterien einer nachhaltigen Weichenstellung in unserer Energieerzeugung geworden. Zur Hauptfrage ist angesichts des engen Zeitfensters, innerhalb dessen wir den Klimawandel eindämmen wollen, geworden: Welchen Beitrag kann eine Technologie zur Reduzierung von klimaschädlichen Emissionen in welcher Zeit und zu welchen Kosten leisten?

Und vor diesem Hintergrund dieser Ausgangssituation hat die LINKE dieses Mammutprojekt, so spannend es aus wissenschaftlicher Sicht auch sein mag, kritisch betrachtet.
Sollte ITER, wie geplant, 2018 zum ersten Mal Strom produzieren, wäre das wiederum der Startschuss für weitere vorrangig öffentlich finanzierte milliardenschwere Demonstrationsprojekte, so auch den Reaktor DEMO. Von einer kommerziellen Nutzung ist man dann allerdings immer noch dreißig bis vierzig Jahre entfernt. Vor 2050, so schätzen Experten, wird auch im Best-Case-Szenario kein Strom aus Kernfusion ins Netz kommen. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir jedoch Maßnahmen für eine klimafreundliche Energieerzeugung längst getroffen und umgesetzt haben. Oder um nochmals Michail Gorbatschow zu bemühen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

DIE LINKE strebt, wie andere Fraktionen hier im Haus auch, eine vollständige Umstellung der Stromversorgung auf Erneuerbare Energien an. Diese haben den Vorteil, vor allem dezentrale Stromproduktion zu ermöglichen. So können nicht nur Synergien, etwa bei der Kraft-Wärme-Kopplung oder der Verwertung von Biomasse genutzt werden, auch die Abhängigkeit von Monopolstrukturen in der Energiewirtschaft ließe sich deutlich verringern.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat am Tag vor dieser Debatte in einer Stellungnahme bestätigt, dass eine vollständige Umstellung auf Erneuerbare Energien bis 2050 umsetzbar ist, wenn klare politische Weichenstellungen erfolgen. Ich zitiere Selbigen: „Die Politik muss die Zielrichtung eindeutig vorgeben. Wichtig ist es, die systemischen Konflikte zwischen grundlastbasierten und erneuerbaren Systemen und die daraus entstehende Notwendigkeit einer Systementscheidung für die Öffentlichkeit transparent zu machen.“

Das Versprechen auf die Zukunftsvision, die Kernfusion könnte uns von allen Energieprobleme der Welt erlösen, birgt die große Gefahr, dass wir nicht energisch genug die notwendigen energetischen Weichenstellungen angehen und uns vor der genannten Systementscheidung drücken.

Und die schwarz-gelbe Koalition bremst jetzt bereits: nicht nur durch Pläne für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken, nicht nur mit der überzogenen Kürzung der Einspeisevergütung im Rahmen des Energieeinspeisungsgesetzes, sondern auch durch stagnierende Forschungsmittel im Bereich der Erneuerbaren Energien. Wer abseits von Sonntagsreden etwas zu den Initiativen des Umweltministeriums in diesem Bereich erfahren will, hat Pech. Dessen Übersicht zur Forschung bei Erneuerbaren auf der Ministeriumsseite verharrt auf dem Stand Mai 2009. Ein Innovationsbericht für diesen Bereich ist zum letzten Mal im Januar 2009 erschienen. Nach einer eindeutigen Prioritätensetzung für Forschung an nachhaltiger Energieerzeugung sieht das alles nun wirklich nicht aus.

Wir können nur appellieren: Nehmen Sie die Verantwortung an!
ITER und die Fusionsforschung mögen spannende wissenschaftliche Hypothesen überprüfen. Wohl wahr.

Aber zur Lösung unserer drängenden Probleme tragen sie bestenfalls langfristig, schlechtestenfalls niemals etwas bei. Beenden Sie die Teilnahme an diesem Projekt, bevor es weitere Milliarden verschlingt, die heute weit effektiver für eine Energiewende eingesetzt werden können.

Wir wissen, dass das Kündigen multilateraler Verträge dieses Umfangs besonders kritisch zu prüfen ist. Verlässlichkeit und Vertrauen sind durchaus bedeutende Kriterien. Wir haben diese und die Komplexität des Projektes bei unserer Prüfung berücksichtigt. Dabei mussten wir auch feststellen, dass es bei dem gewaltigen Missverhältnis zwischen dem Engagement öffentlicher Haushalte und der Wirtschaft geblieben ist.

Veränderte Situationen zu analysieren, Folgen abzuschätzen und entschlossen zu reagieren, ist durchaus mit veränderten Prioritätensetzungen verbunden. Dieser Frage müssen sich auch die Koalitionsfraktionen stellen. Immerhin haben sich umwelt- und finanzpolitische Bedingungen erheblich verschärft. Vor diesem Hintergrund übernehmen wir mit unseren Förderentscheidungen auch Verantwortung für nachfolgenden Generationen und ihre Lebensbedingungen, für das gesamte Ökosystem Erde. Eine Nummer kleiner geht es bei der Tragweite dieses Megaprojektes nicht.

Meine Fraktion kann dem Antrag der Grünen daher zustimmen. Vielen Dank.