„Wir Linke müssen daran mitwirken, dass Gerechtigkeit ihr Schattendasein aufgibt!“

An diesem Wochenende findet der Landesparteitag der LINKEN Sachsen-Anhalt in Peißen statt (zum Parteitag). Gestern hielt Petra Sitte dort eine Rede, die hier im Wortlaut dokumentiert ist:

„Gestern habe ich den Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz per Mail bekommen. Getitelt mit „Die, die im Schatten leben“ berichten Menschen von ihren Armutserfahrungen. Menschen aus Sachsen-Anhalt hätten wohl auch sehr viel zu berichten.

Geht diese Entwicklung noch weitere zehn Jahre so weiter, dann werden wir in diesem Land von massenhafter wirklicher Armut über alle Bevölkerungsgruppen hinweg sprechen müssen. Wir werden Kinder- und Altersarmut erleben. In der Gruppe der Beschäftigten, werden die mittleren Einkommen stetig weiter abnehmen, wobei nur ca. 10 Prozent damit rechnen können, in höhere Gruppen aufzusteigen.

Es kommen also gewaltige Herausforderungen auf die Gesellschaft, auf ein öffentliches Gemeinwesen zu, das mehr und mehr ausgehungert wurde. Jetzt verkündet in Sachsen-Anhalt schon der Finanz- und nicht der Bildungsminister Schulschließungen. Herzlichen Glückwunsch SPD!

Dieser Substanzverlust trifft aber nicht nur Infrastrukturen von Gemeinschaftsgütern im engeren Sinne.

Substanzverlust meint hier massenhaften Verlust an Lebensqualität, meint Grundlagen für gemeinschaftliches Zusammenleben, meint auch soziale Verknüpfungen, derer eine funktionierende Zivilgesellschaft bedarf. Outdoor-Gruppen haben sich längst gebildet. Wir erleben das in den Städten genauso wie im ländlichen Gebieten.

Und letztlich berührt dieser Substanzverlust auch unser demokratisches Handlungsvermögen, berührt lebendiges Interagieren von NutzerInnen, von Interessierten und schließlich auch exekutive Verantwortung Tragende.

Für uns muss es durch einen Politikwechsel also darum gehen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit wieder zurück zu gewinnen, um würdiges menschliches Zusammenleben in Permanenz zu ermöglichen.

Die Grundfrage, die wir in den öffentlichen Auseinandersetzungen immer wieder ganz offensiv und selbstbewusst stellen müssen lautet:

Wer oder was ist in diesem Land eigentlich für wen da?

Wir müssen uns für Forderungen nach besseren KiTa’s, Schulen, Hochschulen, nach einem gerechteren Gesundheitswesen, nach gerechteren Löhnen und Renten, nach besseren Lebensperspektiven, nach bezahlbarer Energie und vieles andere mehr doch nicht rechtfertigen! Erst recht nicht nach der Finanzkrise!

Irgendwie hat sich die Einsicht, dass es verdammt ungerecht zugeht, ja auch durchgefressen in die Köpfe vieler Menschen. Welchen Bewusstseinswandel und Selbststärkung Menschen durchlaufen können, habe ich hautnah bei den Streikenden von S-Direkt erlebt. Und mich hat tief beeindruckt, wie die KollegInnen über 117 Streiktage zusammengehalten haben.

Daraus können auch wir Kraft schöpfen. Wir müssen daran mitwirken, dass Gerechtigkeit ihr Schattendasein aufgibt.

Gesellschaftliche Transformationen, die als Hau-Ruck-Aktionen von Oben nach Unten daherkommen und in Runden von handverlesenen Experten bzw. Lobbyisten finden immer weniger Akzeptanz. Ob sich‘s dabei um so genannte Rettungsschirme, um die Energiewende, um Riesenbauvorhaben oder ein vergleichsweise kleines Golfplatzprojekt auf einem ehemaligen Deponiegelände in Halle handelt, ist eigentlich wurstig.

Wir sollten alle unsere gesellschaftlichen Transformationsprojekte in den Kontext einer neuen Innovationskultur stellen. Und zwar genau dort, wo die gravierendsten Konfliktlinien verlaufen.

Was meine ich damit? Was meinen wir als LINKE damit?

Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft müssen von einem deutlich erweiterten Innovationsbegriff ausgehen. Innovationen sind längst kein technisch-technologisches Projekt mehr. Neue Ideen werden erst dann zu Innovationen, wenn sie sich gesellschaftlich bewähren, wenn sie sich in sozialen und kulturellen Lebenszusammenhängen durchsetzen können.

Deshalb haben wir in den letzten beiden Jahren gemeinsam mit NGO’s, mit den Gewerkschaften und anderen interessierten Akteuren den Begriff soziale Innovation verstärkt in die Debatte eingebracht.

Wir wollen neue Wege, neue Organisationsformen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels prägen, ins Zentrum öffentlicher Meinungsbildung bringen. Natürlich bleiben soziale Innovationen mit technisch-technologischen Entwicklungen verknüpft. Aber sie sind nicht mehr der allein bestimmende Kern.

Der damit verbundene Forschungs- und Entwicklungsbedarf ist enorm und firmiert unter dem Begriff Transformationsforschung. Dazu finden wir auch mehr und mehr Aufgeschlossenheit unter WissenschaftlerInnen.

Wir brauchen also einerseits Förderschwerpunkte für sozial ausgerichtete und gesellschaftliche verankerte Suchprozesse in angewandter Forschungs- und Entwicklung.

Auch Konzepte für soziale Großprojekte wie beispielsweise das Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungssystem sind so komplex, dass Wissenschaft diese in Szenarien und in gesellschaftlich offener Diskussion entwickeln muss.

Keine Expertenkommissionen mehr in ministerialen Hinterzimmern! Wohin wir mit Technokraten wie Hartz, Rürup, Raffelhüschen, Hans-Werner Sinn und anderen mehr kommen, haben wir gerade auszubaden.

Wir müssen uns andererseits den ganzen Innovationsprozess über fragen und fragen lassen, wie viel die Erkenntnisse zu einem konkreten aber eben auch zum fundamentalen Fortschritt in der Gesellschaft beitragen können.

Dass soziale Innovationen Kosten verursachen, wollen wir gar nicht leugnen. Aber sie entstehen vor allem jenen, die bisher unverschämt hohe Gewinne eingefahren und unverschämt hohe Vermögen akkumuliert haben. Ressourcen, im Interesse der Gesellschaft zu verteilen, macht aber auch volkswirtschaftlich Sinn. Und sie bieten im Übrigen auch kapitalärmeren Akteuren eine Chance.

Und jetzt komme ich abschließend zum Ausgangspunkt meiner Rede, der Armutsentwicklung, zurück.

Um es mit Adam Smith und Daniel Kehlmann zu sagen:

Der „Wohlstand der Nationen“ bedarf einer neuen „Vermessung der Welt“.

Und da sollten wir als LINKE unsere Gerechtigkeitsvorstellungen als Wertemaßstab in die gesellschaftlichen Debatten des Wahljahres offensiv und selbstbewusst hineintragen.“