Forschungspolitik muss sich modernisieren

 

TOP) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, Ulla Lötzer, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.
Soziale Innovationen und Dienstleistungsinnovationen erforschen und fördern, Drs. 17/8952

Herr Präsident! Meine Damen und Herren,

wir wollen mit 1,2 Prozent der Weltbevölkerung unsere Rolle als viertgrößte Industrienation und unseren Wohlstand bewahren. ? Wie Sie sich vorstellen können, stammt dieser Satz nicht von mir,

(Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Wollen Sie das nicht?)

sondern von der Forschungsministerin Frau Wanka. Er wirft neben einer für mich sehr eigenartigen Subbotschaft unweigerlich die Frage auf, was Wohlstand für das 21. Jahrhundert eigentlich bedeutet und welchen Beitrag Forschung zu diesem Wohlstand leisten kann. Die Hightech-Strategie gibt weder in der alten noch in der neuen Fassung überzeugende Antworten. Die Zukunftsprojekte dieser Strategie, so wird es in der Einleitung des Aktionsplans gesagt, sollen sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten. Klingt toll, das sagen aber alle hier in diesem Haus.

Welche Bedürfnisse haben denn Menschen, die einer Hightech-Strategie dieses Zuschnitts bedürfen? Die Bundesregierung, so scheint mir, wird es nicht herausgefunden haben; denn Sie stecken seit Jahren in dieses Programm Milliarden Euro, ohne dass Menschen mit ihrem Alltagswissen und ihren Erfahrungen wirklich in die inhaltliche Ausrichtung des Programms eingebunden worden wären. Demzufolge bleiben dann eben auch soziale, soziologische, kulturelle und auch viele Alltagsfragen in diesem Programm unberücksichtigt. Unter „nah am Menschen“ verstehe ich etwas anderes.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. René Röspel (SPD))

Das alles glauben Sie mir jetzt wieder nicht, und deshalb habe ich mir ein paar Beispiele herausgesucht. Teil der Hightech-Strategie ist auch das Zukunftsprojekt mit dem klingenden Namen „Auch im Alter ein selbstbestimmtes Leben führen“. Das will natürlich jede und jeder in diesem Land, und das ist auch richtig.

 (Beifall bei der LINKEN)

Aber warum konzentrieren Sie sich einseitig auf die technische Unterstützung von Seniorinnen und Senioren und von zu Pflegenden? Da werden Sensoren für alle Wohnräume und Betten entwickelt, die Daten gehen dann an Pflegepersonen und Ärzte, Ältere sollen mit Navigationssystemen ausgestattet werden, die ihnen den Weg durch den Verkehrsdschungel zeigen, Pflegende sollen durch Roboter unterstützt werden, ganze Wohnungen sollen mit digitalen Steuerungs- und Kontrollsystemen ausgestattet werden. Das alles klingt ganz toll, aber im Alltag sind diese Technologien überhaupt nicht angekommen. Ihnen fehlen nämlich die technikbegeisterten und vor allem die zahlungskräftigen Abnehmerinnen und Abnehmer für solche Technologien. So viel Undankbarkeit am Ende aber auch!

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Da hat das Ministerium nun aber sofort reagiert, es hat das messerscharf erkannt und letzten Freitag einen neuen Plan veröffentlicht. Es wird eine neue Förderausschreibung herausgegeben, noch eine zu den 19 000. Man will jetzt kommunale Beratungsstellen einrichten mit dem Titel „Besser Leben im Alter durch Technik“. Dem Unwissen über Assistenzsysteme soll durch Aufklärung bei der Zielgruppe zu Leibe gerückt werden. Super.

Fällt eigentlich niemandem von den Koalitionsfraktionen auf, dass Sie das Pferd von hinten aufzäumen? Müsste nicht vielmehr gefragt werden, was ältere Menschen brauchen, um sicherer, gesünder und sorgenfreier zu leben? Vermutlich würde jetzt die Hälfte der Bevölkerung sowieso sagen: Als Erstes brauche ich eine sichere Rente. ? Aber das kommt in den Hightech-Träumen gar nicht vor.

 (Beifall bei der LINKEN)

Wir sagen: Wer wissen will, was Menschen brauchen, muss mit ihnen und ihren Interessenvertretungen reden und darf sich nicht als Erstes an die Vorstandsetagen von Technologieunternehmen wenden. Da kann man doch gleich den Storch vor den Krötentunnel setzen. Lassen Sie endlich Sozial- und Behindertenverbände, lassen Sie Umweltorganisationen, lassen Sie Gewerkschaften und Kirchen mit an Ihren grünen Tisch. Neues wird so viel eher an den tatsächlichen Bedürfnissen entwickelt, und es wird dann auch von den Leuten angenommen.

Ein zweites Beispiel. Die Hightech-Strategie will nachhaltige Mobilität sichern. Auch das klingt super.

(Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Das ist auch gut!)

1 Million Elektrofahrzeuge sollen auf Deutschlands Straßen bis 2020 fahren. Seit 2008 gab es alleine für dieses Programm eine fette Milliarde. Hersteller wie Daimler und BMW konnten sich über großzügige Fördermittel freuen. Das Problem ist aber: Bis heute düsen kaum Elektroautos über die Straßen. Ups – wieso das denn? Zu viele technische Probleme sind ungelöst: Wie bitte schön soll ein Großstadtbewohner im vierten Stock seine Autobatterie laden? Infrastruktur zum Laden des Autos deckt die Milliarde gerade nicht ab. Und vor dem alltäglichen Stauwahnsinn hilft eben auch kein Elektroauto. Außerdem muss man das neue Schmuckstück ja auch irgendwo parken ? großartig für die Städte.

Dabei kommt dann genau das heraus, was ich vorhin schon angesprochen habe: Wenn man nur eine Seite fragt, dann wird es einseitig. Die Expertenkommission für Forschung und Innovation hat Ihnen das ja auch schon aufgeschrieben; sie hat kritisiert, dass sich diese Hightech-Strategie zu sehr an „kurzfristigen kommerziellen Interessen“ orientiert. Eine solche Förderpolitik ist ? um es zu wiederholen ? nicht nachhaltig, sondern bleibt einseitig.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir haben in unserem Antrag „Soziale Innovationen und Dienstleistungsinnovationen erforschen und fördern“ gezeigt ? so viel, Herr Neumann, zu dem Punkt, dass die Opposition ja nichts einbringe -,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein ganz schlechter Antrag!)

worin neue Ansätze bestehen könnten. Der Antrag ist nicht der Weisheit letzter Schluss, aber wir sollten über diese Fragen reden.

Wir fassen den Innovationsbegriff weiter: Unter Innovation verstehen wir eben nicht nur neue Technik, auch wenn sie natürlich an vielen Stellen hilfreich sein kann ? das ist überhaupt keine Frage. Denn Innovationen sollten für alle Lebensbereiche und aus allen Lebensbereichen gedacht werden. Die Lösungen sind dann ebenso vielfältig wie manchmal auch verblüffend einfach, und gerade durch diese Einfachheit sind sie oft besonders innovativ. Das kann dann durchaus auch mal bedeuten, dass vielleicht Verkehrs- und Alltagslotsen aus Fleisch und Blut viel sinnvoller sind. Sie tauchen im Stadtbild als Helferinnen und Helfer auf, sind ansprechbar und können gemeinsam mit Technik viel flexibler helfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Technik ? das wissen wir alle; diese Erfahrung haben wir auch in unseren Familien gemacht ? kann Ältere, insbesondere natürlich auch Menschen mit Demenz, viel eher einschüchtern, als dass sie ihnen hilft. Andere Länder sind längst auf solche Ideen gekommen, aber in Deutschland, nein, in Deutschland setzt man immer noch auf wunderschöne dicke Bedienungsanleitungen.

Innovationen, meine Damen und Herren, gehören aber vor allem in den Bereich Dienstleistungen. Wer über Arbeitsplätze und Wohlstand in diesem Land spricht, der kommt an diesem Sektor gar nicht vorbei. Knapp drei Viertel der Beschäftigten arbeiten in diesem Sektor, und drei Viertel der Wertschöpfung aus unserem Land kommt aus diesem Bereich. Wissen wird dabei natürlich immer wichtiger. Wissensintensive Dienstleistungen sind mit einem Anteil von 37 Prozent viel bedeutender als forschungsintensive Industrieprodukte. Diese haben nämlich nur einen Anteil von 14 Prozent an der Wertschöpfung.

Ob nun Klimawandel oder Energiewende, ob Nachhaltigkeit im Verkehrs- oder Gesundheitswesen ? ohne moderne öffentliche und private Dienstleistungen werden wir keine dieser Herausforderungen bewältigen. Aber was macht unsere teure Bundesregierung? Sie spart. Genau in den Förderprogrammen, wo es um Dienstleistungen gehen müsste, steckt fast nichts drin. Da haben Sie sich überhaupt nicht engagiert. Jeder von uns will einen modernen, leistungsfähigen Staat. Deshalb müssen wir unser Gemeinwesen konditionieren. Das tun Sie aber nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Dabei, meine Damen und Herren, erleben wir jeden Tag den Innovationsstau im Dienstleistungsbereich. Denken Sie an die Deutsche Bahn! Da fallen mir auf Anhieb 100 Ideen ein, wie Betriebsabläufe, wie Ausstattung oder wie der Service zu verbessern wären. Oder denken Sie an Ihr kommunales Krankenhaus, an die Jugendämter, die tagtäglich klug und umsichtig handeln müssen, um schwierige Familienprobleme zu lösen.

Diese Dienstleistungen müssen Sie genauso fördern. Es geht dabei um bessere Arbeitsabläufe für Bürgerinnen und Bürger, aber es geht natürlich auch um gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigen. Die Verwaltung zu modernisieren, heißt nicht, einfach Tausende Leute zu entlassen und den Effektivitätsdruck zu erhöhen. Dienstleistungen sind nicht das notwendige Übel der Informationsgesellschaft, sondern sie sind ihr Kerngeschäft. Darin drückt sich lebendiges Gemeinwesen aus. Wir fordern seit Jahren bessere Förderung und sind damit nicht allein. Gewerkschaften wie Verdi haben dazu Konzepte entwickelt, aber auch die vorhin schon zitierte Expertenkommission Forschung und Innovation hat dazu aufgerufen.

Wie kann nun das neue Wissen beschafft werden? Wir haben in unserem Antrag folgenden Vorschlag unterbreitet: Man könnte den Zugriff auf Innovationsgutscheine ? das Bundeswirtschaftsministerium gibt sie bereits heraus und stellt sie kleinen und mittleren Unternehmen bereit ? auf öffentliche Dienstleistungsbereiche ausweiten. Dann könnten eben auch Universitäten und Hochschulen von solchen Aufträgen profitieren. Warum sollen das kommunale Krankenhaus, die Arbeitsagentur, Kitaträger oder Nahverkehrsunternehmen nicht ebensolche Aufträge zu ihrer eigenen Innovation auslösen?

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir haben es trotzdem mit einer Innovationsblockade der neueren Art zu tun. Die Bundesregierung kündigt seit Jahren die steuerliche Forschungsförderung an. Seit Jahren wird darüber heiß gestritten. Der Nutzen dieser steuerlichen Forschungsförderung ist überhaupt nicht erwiesen. Es gibt dazu ganz unterschiedliche Aussagen. Was aber geblieben ist: Die Unternehmerverbände bohren.

So kann man auf der Basis dieser unsicheren Sachlage feststellen, dass beispielsweise Österreich mit einem solchen Steuerbonus in diesem Bereich einen Aufschwung zu verzeichnen hat. Aber es gibt auch Beispiele dafür, dass Länder, etwa Großbritannien, Frankreich oder die Niederlande, trotz des Steuerbonus in den letzten Jahren in der Forschungstätigkeit eingebrochen sind. Die Besten in Europa, Schweden, die Schweiz und Finnland, kommen gänzlich ohne eine solche Forschungsförderung aus.

Hier ist der steuerliche Bonus vor allem daran gescheitert, dass es kein Gegenfinanzierungskonzept gibt. Was ich nun gar nicht verstehe: Sie wollen diesen Bonus nach dem Gießkannenprinzip verteilen. Das Hauptanliegen der FDP war doch immer: Bloß kein öffentliches Geld nach dem Gießkannenprinzip ausgeben. Sehr eigenartig!

(Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Das haben Sie falsch verstanden, Frau Sitte! Völlig falsch verstanden! – René Röspel (SPD): Sie wollen ihre Klientel bedienen!)

? Ach, das habe ich wohl wieder falsch verstanden; alles klar.

Kurzum, wir wollen keine Steuergeschenke. Wir wollen bei einer zielgerichteten Forschungsförderung bleiben. ? Oh ja, Herr Präsident, meine Redezeit. Es folgt mein letzter Satz.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Ankündigung „Kurzum“ war die ideale Überleitung zum Schluss.

Meine Damen und Herren, auch Forschungspolitik muss man modernisieren. Das Wissen von morgen wird eben nur dann im Morgen ankommen, wenn es heute offen und demokratisch gewonnen wird. Schließlich wollen wir Wissen von allen für alle entwickeln.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. René Röspel (SPD))


MdB Dr. Petra Sitte