Demenzkranke dürfen nicht vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen werden

TOP 1)  Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften; Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Nr. 1.5

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) Drucksache 18/10056

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Nach den klinischen Tests gab es Gewissheit: Die Vergesslichkeiten meines Vaters waren keine Zeichen von Unaufmerksamkeit oder Schusseligkeit, es waren Vorboten der Alzheimererkrankung. Schnell kamen dann auch die schwer erträglichen Bilder von Menschen, die immer weniger verstehen oder in sich versunken leben, Bilder von Menschen aus der Nachbarschaft, die sich verloren hatten, oder eben auch Nachrichten über Menschen, die in ihren besten Zeiten Weltgeschehen mitbestimmt hatten, Menschen wie beispielsweise Walter Jens, die mit ihren Ideen, ihrem Geist und ihrer Redekunst ganze Generationen inspiriert haben.

Aktuell beziehen sich – das ist schon gesagt worden – Forschungsstudien vor allem auf die Frühstadien. Gegenwärtig ist es so, dass man gar nicht so weit ist, um andere Stadien zu untersuchen. Die Forschung kann erst einmal nur diese Frühstadien untersuchen. Deshalb hat sich die Frage, ob es in diesem Land Forschung bzw. Studien zu weiteren Stadien geben sollte, eigentlich erledigt. Das ist also kein gutes Argument.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD – Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum ist das in anderen Ländern anders? Ist doch unlogisch!)

Auch in meinem Wahlkreis in Halle forscht man zu Alzheimer. Ich weiß noch ganz genau, wie mein Vater damals zu mir sagte: Mädel, wenn ich eine Chance habe, in solch eine Studie zu kommen, dann sieh zu, dass ich da auch reinkomme. Vielleicht bringt es mir etwas; wenn nicht, dann hilft es vielleicht anderen. – Natürlich hat er tief im Inneren auf einen direkten individuellen Nutzen gehofft; das ist doch völlig klar. Beides kam nie: weder die Chance noch eine Verbesserung. Aber zu dem Zeitpunkt war er einwilligungsfähig. Er wusste, dass die Studien ihm diesen persönlichen Nutzen nicht garantieren können. Nicht einmal der Nutzen für andere kann sichergestellt werden. Niemand kann das. Es macht ja gerade das Wesen von Forschung aus, dass man vorher nicht weiß, was sie erbringt.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): So ist es!)

Das verkennt leider der Antrag von Uwe Schummer und anderen.

Es wäre aber sehr wohl der Wille meines Vaters und auch sein Selbstbestimmungsrecht gewesen, sich solidarisch, sich altruistisch gegenüber später Erkrankten zu verhalten. Eine Einwilligungserklärung im Zusammenhang mit seiner viel weiter reichenden Patientenverfügung oder von mir aus auch eine Probandenerklärung wäre ganz sicher kein Problem gewesen. Ob es dazu ärztlicher Aufklärung, freiwillig oder verpflichtend, bedurft hätte, sei jetzt einmal dahingestellt. Vielleicht hätte er darauf verzichten wollen, so wie man auch auf die Aufklärung zu einer bevorstehenden Operation verzichten kann. Insofern liegen mir zwei Anträge nahe, nämlich der von Hilde Mattheis und der von Karl Lauterbach.

Mein Vater wie auch wir hätten uns damals überhaupt kein äußeres Ereignis vorstellen können, aus dem heraus sich sein Grundsatz, sich an einer solchen Studie zu beteiligen, erledigt hätte. Allein der Verlauf seiner Erkrankung setzte diese Grenzen. Denn es zeigte sich im späteren Krankheitsverlauf, dass er aggressiv reagierte. Er ließ sich ungern anfassen. Dieser Entwicklung wegen hätte seine Studienteilnahme abgebrochen werden müssen, sowohl aus unserer Betreuungsverantwortung als eben auch aus der ärztlichen Ethik heraus, aber genauso auch aufgrund der Festlegungen der Ethikkommissionen wie auch der zuständigen Bundesoberbehörden.

(Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was macht der Patient, der keine Angehörigen mehr hat? Hat der Pech gehabt, oder was?)

Insofern ist dieses MRT-Szenario – in ein MRT haben wir ihn gar nicht mehr hineinbekommen – eine völlig fiktive Konstruktion, die gar nicht zutrifft, wenn sich der Patient wehrt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD)

Auch nicht einwilligungsfähige Menschen äußern ihren Willen und ebenso ihren Gegenwillen. Das wissen Pflegende, das wissen Angehörige. Darüber gibt es keine Irrtümer. Dieser Gegenwille ist unbedingt zu respektieren. Insofern kann man dem Antrag von Herrn Hüppe zustimmen. Zudem werden in der EU-Verordnung von 2014 und in nationalen Regelungen weitere ganz klare Bedingungen formuliert, die für die Studienteilnahme von nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen erfüllt sein müssen. Davon will hier überhaupt niemand abgehen.

Über die Frage der individuellen Einwilligung, der ärztlichen Einschätzung oder der eingesetzten Betreuer bedarf es darüber hinaus der Zustimmung von Ethikkommissionen und Bundesoberbehörden zu solchen Studien; das habe ich ja schon gesagt. Demzufolge kann überhaupt nicht von einem systematisch möglichen Missbrauchspotenzial gesprochen werden.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Doch!)

Meine Damen und Herren, es ist für mich nicht hinnehmbar, dass durch den Antrag von Herrn Schummer und anderen viele Menschen in höheren Stufen der Alzheimererkrankung trotz aller berechtigterweise bestehenden Kontroll- und Begrenzungsregelungen gänzlich vom medizinischen Fortschritt ausgeschossen werden sollen.

(Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch auch Quatsch! Das stimmt doch gar nicht!)

Wenn der Bundestag den im Voraus verfügten Willen, sich selbst aus Solidarität mit gleichermaßen Erkrankten der Forschung zur Verfügung zu stellen, aus einem paternalistischem Sendungsbewusstsein heraus ignorieren will, ist das aus meiner Sicht eine Anmaßung gegenüber allen, die auf Heilung hoffen, und auch gegenüber allen, die in künftigen Generationen daran erkranken.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war jetzt auch eine Anmaßung, Frau Kollegin! – Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unfassbar!)

Nicht zuletzt: Im Umfeld der Organtransplantation wurde die hier zur Debatte stehende altruistische, solidarische Bereitschaft als Akt der Nächstenliebe ausdrücklich auch von den Kirchen gelobt.

(Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sollten sich da vielleicht auch mal die Unterschiede angucken!)

Meine Damen und Herren, abschließend: Aktuell gibt es in Deutschland circa 700 000 Menschen mit verschiedenen demenziellen Erkrankungen. Finden wir keine Gegenmittel, sind es bis 2050  1,5 Millionen. Wir alle wissen, dass das eine riesige gesellschaftliche Herausforderung ist. Ich betrachte es als ein Gebot der Humanität, dass wir auch aus der Perspektive der fortgeschritten Erkrankten denken und handeln. Wir haben einfach nicht das Recht – so empfinde ich das -, Menschen die Hoffnung zu nehmen, sich selbst mit auf den Weg zur Heilung dieser Krankheit zu machen.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD)