„Die Koalition hat fertig“, sagt Petra Sitte, 1. Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, im Interview der Woche zum Zustand der Großen Koalition. Sie sei nicht nur in der Flüchtlingspolitik mit ihrem Latein am Ende. „Unsere Aufgabe als LINKE ist es, die soziale und zukunftsfähige Alternative zur GroKo und zu deren Chaos vorzubereiten“, so Sitte unmittelbar vor der Fraktionsklausur, die am Montag und Dienstag in Bad Saarow stattfindet.
DIE LINKE hat mit dem Wechsel an der Fraktionsspitze von Gregor Gysi zur Doppelspitze Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch ein neues Kapitel aufgeschlagen. Für so manchen außenstehenden Beobachter lief der Wechsel bislang überraschend problemlos. Können Sie uns das erklären? Und wird das so bleiben?
Petra Sitte: Hat jemand etwas anderes als einen problemlosen Wechsel erwartet? Glaube ich nicht (lacht). Im Ernst: Wir alle wissen, dass nach dem Schritt von Gregor Gysi in die zweite Reihe gutes Teamspiel gefragt ist. Unsere Fraktion geht jetzt die zweite und entscheidende Hälfte der Legislaturperiode an. Wir wollen und müssen trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Großen Koalition sichtbar sein. Das geht nur kooperativ und gemeinsam.
In dieser Woche findet die erste Fraktionsklausur mit der neuen Doppelspitze statt. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in die Klausur?
Dass wir uns über die Aufgaben für 2016 verständigen. Dazu gehört zuallererst eine Debatte über die Situation in den Städten und Gemeinden, die wir mit Kommunalpolitikerinnen und -politikern führen. Wir wollen wissen, wo der Schuh drückt – natürlich auch im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten.
Das politische Themenkarussell dreht sich in diesem Jahr schneller, die Ereignisse scheinen zudem einschneidender. Und Krise ist eigentlich immer. Viele Bürgerinnen und Bürger beschleicht das nicht mehr ganz so vage Gefühl, die herrschende Politik verwalte die jeweils neue Krisenerscheinung mehr schlecht als recht, gelöst und gestaltet wird aber wenig bis nichts. Welche Chancen bietet das für LINKE Politik?
Aber ja, Politik ist unübersichtlicher und hektischer, aber auch internationaler geworden. In den medialen Debatten haben die ganz einfachen Lösungen oder auch die totale Hilflosigkeit gleichermaßen Konjunktur. Beides wird der Situation nicht gerecht. Die große Lösung aller Probleme auf einen Schlag gibt es nicht, das ist wahr. Was wir uns jedoch nicht leisten können, ist das Warten und Aussitzen. Natürlich tragen wir etwas zur Problemlösung bei, wenn wir Menschen Schutz bieten, die vor den Kriegen, vor Gewalt und Folter flüchten. Wir müssen zudem unseren Staat wieder handlungsfähig machen und ihn transparenter und demokratischer gestalten. Und wir brauchen neue Instrumente, um die Menschen verstärkt in die Politik einzubinden. Ich bin auch und gerade jetzt der festen Überzeugung, dass dazu auch Volksentscheide auf Bundesebene gehören.
Europa scheint in der Flüchtlingspolitik tief gespalten. In so manchem Land wie zuletzt in Polen werden Wahlen eher mit dem Ressentiment vor allem Fremden statt mit dem Solidaritätsgedanken gewonnen. Wie schätzen Sie die Lage Europas ein?
Die Entwicklung hier und Europa steht auf der Kippe. Die Frage lautet: Schlagen wir einen national-egoistischen, einen Weg der Abschottung ein oder nehmen wir die soziale Wende in ganz Europa in Angriff? Ich glaube, dass der erste Weg nicht nur falsch ist, er ist angesichts des Standes der europäischen Integration auch unpraktikabel. Es gibt nicht nur den Aufschwung rechtspopulistischer Parteien in Europa, sondern auch den der Linken – überraschend sogar in Ländern wie Slowenien. Bei einer gemeinsamen Politik hat die deutsche LINKE eine Schlüsselrolle. Wenn wir bei uns die Kräfteverhältnisse verschieben, so wie das auch in Griechenland ein Stück weit gelang, dann ist das ein weiteres Signal für ein solidarisches Europa.
„Refugees welcome“ (Flüchtlinge willkommen) – unter diesem Titel veranstaltet die Fraktion Ende November eine Konferenz. Es gibt in Deutschland viele Beispiele für gelebte Willkommenskultur, andererseits nehmen auch sozialpolitische Ängste und kulturelle Vorbehalte zu. Welche Herausforderung stellt das für LINKE Politik in Deutschland dar?
Wir haben dieses unglaublich tolle Engagement Zehntausender, das ja auch aus einem Staatsversagen heraus entstand. Unsere Konferenz soll diesen Ehrenamtlichen auch als Plattform zur Vernetzung dienen und ihnen politisch eine Stimme geben. Übrigens fordert niemand dieser Ehrenamtlichen, die so viel derzeit wegtragen, die Schließung der Grenzen.
Auf der anderen Seite gibt es die Rassisten- und Naziszene, die Morgenluft wittert, immer mehr „besorgte Bürger“ anzieht und sogar zu terroristischen Mitteln greift.
Es gibt aber auch eine große Zahl von Menschen, die gutwillig, aber unsicher sind. Und welches politische Angebot bekommen diese Menschen von der Koalition? Merkels Satz „Wir schaffen das“ wurde in keiner Weise konzeptionell untersetzt. Stattdessen diskutiert die Koalition über Obergrenzen und die Abschreckung durch die Einschränkung des Familienzuzugs, als wenn das ein humaner und überhaupt nur praktikabler Weg wäre. So treibt man Menschen in die Arme der Rechten.
Unsere Aufgabe ist es, diesen Verunsicherten gemeinsam mit den vielen Engagierten eine Perspektive für die Integration zu vermitteln. DIE LINKE sollte sagen, wie wir das schaffen und was wir schaffen müssen, wenn diese Koalition dabei schon vollständig versagt.
Das Freihandelsabkommen TTIP ist trotz großer Proteste noch immer nicht vom Tisch. Wie groß wäre der Schaden für die Demokratie, wenn das Abkommen am Ende doch eingeführt wird?
Unser Bundestagspräsident hat recht: Ein Abkommen, bei dem nicht mal jemand aus dem Parlament mitreden konnte, ist nicht zustimmungsfähig. Das gilt auch für das CETA-Abkommen mit Kanada. Beim Investitionsschutz geht es ja nicht um Konflikte zwischen den USA und Europa, sondern zwischen den Mehrheiten der Bevölkerung hier wie dort und den Interessen großer Wirtschaftsunternehmen. Das muss man auch den Rechten mal erklären, die mit dem Thema auf anti-amerikanische Stimmungsmache gehen.
Keine zwei Jahre sind es mehr bis zur nächsten Bundestagswahl. Wie sehen Sie den Zustand der Großen Koalition und wo liegen die Alternativen?
Zwei Jahre noch? Sie sind ja optimistisch (lacht). Diese Koalition hat fertig – und zwar schon länger. Sie ist nicht nur in der Flüchtlingspolitik, sondern insgesamt am Ende ihres Lateins angekommen. Wenn Angela Merkel sich jetzt dem national-konservativen Flügel ihrer Partei vollkommen geschlagen gibt, dann richtet sich der Fokus auf die SPD. Steht sie eigentlich noch für einen gestaltenden Anspruch? Oder spielt sie Regierung nach dem olympischen Motto „Dabei sein ist alles“? Unsere Aufgabe als LINKE ist es, die soziale und zukunftsfähige Alternative zur GroKo und zu deren Chaos vorzubereiten. Wir müssen mutig unseren Staat sozial modernisieren und ausbauen, damit er endlich wieder handlungsfähig wird. Wohnungsbau, Bildung, Rente, Sozialsystem, ÖPNV, Infrastruktur, Integration – alle Versäumnisse der vergangenen Jahre drängen jetzt angesichts der Geflüchteten im Land umso mehr. Ein Einwanderungsland kann sich erst recht keinen kaputten Staat leisten.